MATS GUSTAFSSON
Hot Horn From Cool North

Die Luft flirrt oder ist gespickt mit scharfen Klangsplittern, wenn der
drahtige, agile Schwede (Jahrgang 1964) seinen Atem durch die
verschiedendsten Saxophone jagt.
Gustafssons Klangvokabular, sein Ton, gepaart mit famoser Technik, sind von
derart eigenwilliger Prägung, infolge derer er in den letzten Jahren zu
einem der wichtigsten Impulsgeber in der aktuellen improvisierten Musik
avancierte. In jedem der Projekte in die er sich einbringt, initiierend oder
partizipierend, ist er eine zentrale Triebkraft. Er agiert mit
unverbrauchter Frische und scharfsinnigem Geist. Er hat eine ausgeprägtes
Gespür für Spannungsaufbau, setzt punktgenau Blitzlichter und kann auf ein
Kreativitätspotential von außerordentlichem Ausmaß zurückgreifen. Gustafsson
versucht mit jedem gespielten Ton die Sinne zu fordern, strebt die
Verknüpfung mit dem Sprachschatz progessiver Improvisatoren
unterschiedlichster Herkunft an und will Anregungen geben die Welt, in der
Selbstgenügsamkeit und Konturlosigkeit gang und gäbe zu werden drohen, neu
wahrzunehmen.
Der Faszination aufbegehrender, querdenkerischer Improvisation erlag er als
er im zarten Alter von 15 Jahren, wie er erzählt, Peter Brötzmanns epochale
Platte "Machine Gun" hörte. Die Wucht und Intensität dieser Musik hat ihm
förmlich das Hirn durchgeblasen und seine Vorstellung von Tonkunst von Grund
auf umgekrempelt. Emotional zutiefst berührt wurde ihm ab diesem Moment
klar, dass er seine Musik in eine solche Richtung entwickeln möchte. 
Mittlerweile zieht Gustafsson tiefgreifende, leuchtende Spuren durch die
jüngste Geschichte improvisierter Musik. Sei es mit dem Trio Gush, dem Aaly
Trio & Ken Vandermark, dem Trio Things, dem NU-Ensemble oder als Mitglied in
Gruppierungen wie dem Barry Guy New Orchestra oder dem Brötzmann Chicago
Tentett. Die Aufzählung ließe sich fortführen. Seinen eigenen Weg
zielstrebig verfolgend, entwarf Gustafsson eine differenzierte, von Purismus
weit entfernte Philosophie über improvisierte Musik, die Teil jeder seiner
Töne ist:
"Freiheit des Geistes ist eine Möglichkeit improvisierter Musik Qualität zu
verleihen. Es ist unabdingbar sich von Zeit zu Zeit entleeren. All deine
Erfahrungen und die Traditionen schwirren immer unbewusst in deinem
Hinterkopf herum. Es lässt sich nicht steuern wann sie hervortreten. Darum
ist das Befreien und Öffnen des Geistes eine ganz wesentliche Sache.
Andererseits bin ich der Überzeugung, dass dieses besagte "Freisein" nicht
existiert. Niemand ist wirklich frei. Nochmals, Freiheit erreichst du, wenn
dein Geist offen ist. "Free" ist eigentlich eine inadäquate Bezeichnung. In
den 1960er Jahren hatte der Begriff "Free Jazz" einen Bezug zu seiner Zeit
und auch eine politische Bedeutung. Ich verwehre mich generell gegen die
Schubladisierung von Musik. Das ist wirklich idiotisch. Denn das limitiert
und konditioniert MusikerInnen wie HörerInnen. Das Einzige worin du wirklich
frei bist, und wo dieses Adjektiv  zutreffend ist, ist, dass du bei
improvisierter Musik in jeder Sekunde entscheiden kannst wohin du dich
bewegen willst. Aber totale Freiheit ist absurd."
Gustafsson ist einer der wenigen jüngeren Saxophonisten, die nicht dem
Coltrane - Kopiersog verfielen und sich von dem Saxophon-Übervater
emanzipiert haben. Sein Kommentar:  Coltrane war fantastisch. Aber ebenso
wie der von Miles beispielsweise, war sein Einfluss für viele Musiker kein
Segen. Sie waren so in dieser Musik gefangen, dass ihre eigene Sprache
verkümmerte. Nach wie vor ist es erschütternd, wenn junge Musiker einfach
diese Leute kopieren. Das ist das Schlimmste was man tun kann. Ich kann
nicht verstehen, egal welche Musik man spielt, warum ich irgend etwas
nachahmen sollte. Du kannst dich von diesen großen Musiker inspirieren
lassen, einiges ihrer Technik übernehmen, aber dann musst du das auf deine
Art und W eise weiterverarbeiten. Natürlich macht man als 20jähriger jede
Menge Fehler. Gerade die improvisierte Musik verlangt viel Zeit und
Ausdauer. Sie ist ein ständiger Lernprozess . Und in dieser Hinsicht sind
viele der jungen Musiker viel zu ungeduldig. Ein anderes Problem sind die
Jazzschulen, die in meinen Augen mehr zerstören als sie helfen. Gut,
"klassischen Jazz" kann man in einem gewissen Grad lehren, aber
improvisierte Musik ist Leben. Du musst lernen dein Leben zu leben. Das ist
wichtiger als spieltechnische Instruktionen. Die Technik muss sich jeder
selbst erarbeiten. Eine der wunderbarsten Sachen improvisierter Musik ist
für mich die Möglichkeit durch erfahrenen Musiker das Eigene zu entdecken.
Das macht diese Musik so großartig. Denn, sie zu erleben, aktiv wie passiv
ist viel mehr als konsumieren. Darum bin ich froh auf solche
Persönlichkeiten wie Paul Lovens, Derek Bailey, Brötzmann, Evan Parker
getroffen zu sein. Ohne sie stände ich nicht dort wo ich jetzt stehe."
Genauso eindeutig beurteilt Gustafsson den politischen Gehalt von
improvisierter Musik:
"Gerade sie ist ein dezidiertes politisches Handeln. Es ist in gewisser
Weise eine "gefährliche Musik", da sie Leute in ihrem Denken verändern kann.
Die heutige Gesellschaft ist ja noch extremer auf richtiges Funktionieren im
Job und auf Konsumieren ausgerichtet als je zuvor. Passt du nicht in deren
schema bist du ein Außenseiter. Doch der bin ich gerne, denn improvisierte
Musik ist auf vielen Ebenen eine unglaublich vorwärtstreibende Kraft. Und
wenn ich nur eine Person zum Umdenken animieren kann, hat sich die Sache
schon gelohnt. Selbstverständlich hoffe ich, dass es mehrere sind. Genauso
hat die Musik mein politisches Denken verändert.
Eine kleine Episode: Im Zuge der schwedischen EU-Präsidentschaft bekam ich
heuer die Möglichkeit mit einem größeren Ensemble, dem NU-Ensemble, von Paul
Lovens und mir initiert, auf Europatournee zu gehen. Organisiert und
produziert vom schwedischen Kulturinstitut. Wir spielten in Kroatien,
Frankreich, Deutschland etc. Nur nach Österreich wollte man uns aus
politischen Gründen (Danke Jörg, Anm. d. Red.) nicht schicken. Das halte ich
für völlig kontraproduktiv. Wir sollten genaugenommen nur hier spielen. Ich
bin sehr glücklich darüber, das wir in Österreich zwei Konzerte spielen
konnten (Graz und Nickelsdorf). Es ist wahrlich eine seltsame Zeit in der
wir Leben." Gustafsson spricht das Thema Internet an und verweist darauf was
man denn den Konsumenten alles über die unbegrenzten Möglichkeiten und
Freiheiten dieses Mediums aufschwatzte. Da wären wir wieder bei der
Freiheit. "Die Wahrheit ist, das es die absolute Kontrolle über jeden deiner
Schritte bedeutet." 
Kommen wir auf Gustafssons musikalische Arbeitsweise zu sprechen. Auch hier
lässt er sich nicht limitieren. Ob er strukturelle Vorgaben verwendet oder
nur intuitives Kommunizieren betreibt ist vom jeweiligen Projekt abhängig.
Der Saxophonist erläutert:
"Im Duo mit Paul Lovens beispielsweise gibt es absolut keine Notwendigkeit
mit Strukturen zu arbeiten. Wir gehen hin und spielen. Mit dem Aaly Trio +
Ken Vandermark oder Peter Brötzmann macht es auch Spaß Stücke zu spielen.
Aber gerade bei größeren Besetzungen sind gewisse Strukturvorgaben von
Vorteil. Denn mit 10, 12 Mann frei zu improvisieren ist äußerst schwierig.
Die Strukturen sind auch von nöten um jedes Konzert anders gestalten und die
Musik lebendig halten zu können. Im NU - Ensemble wird auch darüber sehr
viel diskutiert, was ich für enorm wichtig halte. Zudem werden auch
intensive Gespräche über außermusikalische Ausdrucksformen geführt. Bildende
Kunst, Literatur oder Tanz sind ganz wesentliche Inspirationsquellen für
mich. Tanz ist die Ausdrucksform die meiner Musik am nähesten steht.
Bewegung ist mir beim Spielen ein Bedürfnis und Teil meiner
Phrasierungsweise."
Sein unbändiger Bewegungsdrang ist sehr gut bei Konzerten des Aaly Trios mit
dem anderen neuen "Saxophone-Colossus" Ken Vandermark zu beobachten. Diese
Band verabreichte der progressiven Jazz-Ästhetik eine Frischzellenkur.
Souverän wird zudem Musik von "Free Jazz - Ikonen" wie z. B. Albert Ayler,
Don Cherry aufgegriffen und ins persönliche Klangkontinuum integriert.
Gustafsson dazu: "Die Anregung dazu kam von Ken. Aber es geht auf keinen
Fall darum die Musik dieser herausragenden Musiker zu kopieren. Es ist ein
neuerliches Sammeln von wichtigen Erfahrungen. Die Zusammenarbeit mit Ken
ist ungemein spannend. Bedingt durch seine amerikanische Sicht der Dinge,
die doch sehr unterschiedlich zur europäischen ist. Wir reden wirklich viel
über Musik, Politik, Leben usw. Das ist auch der Grund warum wir uns so gut
verstehen, menschlich wie musikalisch. Ich habe bei Aufnahmen mit Joe McPhee
ein Stück von PJ Harvey eingespielt. Das ist großartige Musik. Warum soll
man auf solches Material nicht zurückgreifen? Gerade in der improvisierten
Musik hast du die Freiheit aus allem für dich interessantem Material zu
wählen. Entscheidend ist, dass du es auf deine Art weiterverarbeitest.
Improvisierte Musik verstehe ich als sehr weitgefassten Begriff. Er
inkludiert Jazz ebenso wie ethnische Musiken, aber auch das was Sonic Youth
machen. Für mich ist alle Musik miteinander verbunden. Das gilt auch für
Komposition und Improvisation. In einer guten Komposition ist ebenso
Improvisation möglich. Gegeben durch deine eigene Sprache, mit der du bei
der Interpretation Bewegung in eine Komposition bringst."
Das Projekt mit dem Gustafsson jüngst wieder für große Ohren sorgte, ist das
von Paul Lovens und ihm geleitete NU-Ensemble. Idee hinter dieser Formation
ist, Musiker mit welchen er gerne spielt, die er hoch schätzt und die zu den
profiliertesten Vertretern dieser Spielhaltung zählen, in einem Ensemble zu
vereinen und Komposition und Improvisation zu einer neuen Einheit zu
verschmelzen. Jeder der Beteiligten hat eine gleichberechtigte Stellung,
wodurch ihnen die Möglichkeit eingeräumt wird, die Musik jederzeit verändern
zu können. Es ist keine fixe Gruppe, sondern funktioniert auf Basis eines
"work in progress":
"Diese Gruppe ist eine wirkliche Herausforderung, und ich hoffe sie
möglichst lange aufrecht erhalten zu können, denn ich möchte in Zukunft noch
weitere Musiker einladen für sie Stücke zu konzipieren."
Welches Buch liest du zur Zeit?
"Eines von dem schwedischen Schriftsteller Magnus Floerin mit dem Titel
"Circulation" und eines von Henry Miller." 
Hannes Schweiger