mit seiner serie "re" aktionen versucht der in ostanatolien geborene
maler und grafiker HÜSEYIN ISIK seit nunmehr über zwei jahren, auf
aktuelle oder noch immer aktuelle probleme und fragestellungen
politischer art in unserer gesellschaft einzugehen und seine sicht der
dinge mit den ihm eigenen mitteln zum ausdruck zu bringen.
        
das projekt GRENZEN-LOS beschäftigt sich mit all den grenzen, die in
unseren Köpfen und in unserem geographieverständnis als scheinbar
unumstößliche realität vorhanden sind.
am kleylehof, nahe an der grenze zwischen österreich und ungarn, an der
verstärkt gegen illegale einwanderer vorgegangen wird, wird ein
überdimensionales tor aus holz und metall aufgebaut.
das tor ist versperrt: mit schlüsseln, ketten, vorhandschlössern,
sperrbalken .... es zu bezwingen scheint aussichtslos, obwohl es doch im
freien feld steht ...


die erde ist meine heimat
der mensch ist meine nation

eine "re" aktion von hüseyin isik
GRENZEN-LOS

die grenzen haben mich am meisten verletzt

"du hast wieder deinen atlas aufgeschlagen liegen lassen, die ozeane
werden wieder unsere wohnung überschwemmen ...", sagte mir meine mutter.
sofort lief ich hinunter zu unserer fersterlosen ein-zimmer-wohnung,
drei etagen unterhalb der erde, und griff nach meinem bunten weltatlas
auf der nähmaschine, die jahrelang zugleich mein arbeitstisch gewesen
war. (dieser atlas war lange zeit mein einziges vergnügen.) 
mit den begrenzten mitteln unseres vaters konnten wir nicht in eine
andere stadt oder in einen anderen bezirk, geschweige denn in ein
anderes land fahren. unter dem einfluss der bücher, vor allem der
romane, wollte ich die ganze welt sehen. dieses begehren ließ mich ein
spiel erfinden: ich öffnete einen atlas und schaute nach, welches land
ich heute besuchen wollte (falls ich an dem tag jules verne gelesen
hatte, war es schlimm um mich bestellt). auf diese weise lernte ich alle
länder, städte, sogar die kleinen dörfer dieser welt kennen. ich bestieg
alle berge, schwamm in allen seen und flüssen, segelte in allen meeren
dieser welt. ich schloss so viele freundschaften. 
wie ich das alles gemacht habe? mit einer sehr einfachen methode:
welches land auch immer ich besuchen wollte, musste ich zunächst den
maßstab der landkarte berücksichtigen. wenn das land um 1,200.000
verkleinert war, so vergrößerte ich es in meiner vorstellung 1,200.000
mal. die flüsse, täler, berge, städte, straßen, häuser, alles, einfach
alles konnte ich sehen. Ich stellte mir die menschen und ihr leben vor. 
aber da war etwas, das ich nicht so recht begreifen konnte: ein roter
strich und ein roter punkt, dann ein roter strich und ein roter punkt
umkreisten immer wieder die länder. 
allmählich verstand ich, dass sie grenzen waren. wenn ich dann diese
punkte und striche in meiner vorstellung 1,200.000fach vergrößerte,
entstand vor meinen augen eine riesige flammenrote chinesische mauer
oder so etwas wie eine burgmauer und daneben ein roter turm .... wie
schwierig muss es wohl gewesen sein, dachte ich bei mir, um all diese
länder so hohe mauern und türme zu errichten. 
dieses bild bleibt jahrelang vor meinen augen. 
bis ich jahre später eine flugreise unternahm: ich saß neben dem fenster
und schaute hinunter auf die erde genauso neugierig wie beim atlas-spiel
meiner kindheit. die flüsse, berge, täler, städte, alles, alles war da,
alles am rechten platz ... 
aber die grenzen, es waren keine grenzen da, jahre, jahrzehntelang
hatten sie uns betrogen ... 
ich schwöre, da waren keine grenzen. ich schwöre es, ich habe es mit
meinen eigenen augen gesehen.

hüseyin isik, 6. jänner 1998, istanbul